“Was wir wissen können” von Ian McEwan

Der bekannte britische Autor ist für psychologisch ausgefeilte Geschichten bekannt, die sich oft die Grenzen von gesellschaftlichen und moralischen Fragestellungen heranwagen. Es werden dabei immer wieder in kreativer und mutiger Form Entwicklungen zu ende gedacht und es wird dabei gerne auch an üblichen Tabugrenzen gerüttelt.
Mit dem aktuellen Roman nimmt McEwan eine extrem ungewöhnliche Perspektive ein:
Er schaut aus dem Jahre 2119 auf unsere (gegenwärtige) Epoche zurück und betrachtet eine private Episode aus dem britischen Künstlermilieu mit einer Akribie, die noch über Detailverliebtheit hinausgeht: Es ist Detailversessenheit!
Der Autor schafft dafür eine Rahmenhandlung, in der der junge Literaturwissenschaftler Thomas Metcalfe aus 200jährigen Distanz das Schaffen des Dichters Francis Blundy erforscht. Insbesondere geht es dabei um ein verschollenes und mythenumwobenes Gedicht, das der berühmte Poet seine Frau Vivien gewidmet und geschenkt hat.
In diesem Zusammenhang führt die Auswertung von Archivmaterial (insbesondere von Tagebucheinträgen und Briefen) dazu, dass nicht nur einzelne Begebenheiten rund um das Gedicht minutiös rekonstruiert werden, sondern auch sehr intime Beziehungsgeschichten des Künstlerehepaares ans Tageslicht kommen.
Die Stärke dieses Romans liegt für mich eindeutig in seiner Perspektive: Die Entscheidung, eine zerstörte Zukunft auf unsere Gegenwart zurückblicken zu lassen, eröffnet einen ungewohnten Blick auf das Hier und Jetzt. Die Archivsuche in der Rahmenhandlung, die Rekonstruktion einer fast „mythischen“ Vergangenheit und die Frage, was von unserem Leben, unseren Debatten und Eitelkeiten überhaupt bleibt, ist konzeptionell reizvoll. Gerade diese Metaebene – wie sich Geschichte über Dokumente, Fragmente und blinde Flecken erzählt – sorgt zunächst für ein hohes Maß an intellektueller Faszination.
Gleichzeitig ist genau hier das Problem: Die Materialfülle, mit der der Roman seine Figuren, ihre Biografien, die literarischen Bezüge und vor allem den berühmten Sonettenkranz ausleuchtet, wirkt zunehmend erdrückend. Was anfangs wie eine detailreiche, lustvoll komponierte Textwelt beginnt, kippt im Verlauf in eine beinahe groteske Konzentration auf Einzelheiten. Man fragt sich als Leser: Wozu diese Überfülle? Was ist der übergeordnete Sinn all dieser minutiös ausgeleuchteten Szenen und Informationen – außer der demonstrativen Gelehrsamkeit der Konstruktion selbst?
Besonders interessant ist die Zeichnung des intellektuell-künstlerischen Milieus, in dem sich die zentrale Figurenkonstellation bewegt. Die Liebesaffären, heimlichen Neigungen und Parallelleben werden nicht als bloß oberflächliche Eskapaden geschildert, sondern als ernsthafte, teils geistig grundierte Beziehungen. Zugleich bleibt dieses Milieu deutlich vom „normalen Leben“ abgehoben: eine Oberschicht aus Dichtern, Intellektuellen und Kunstschaffenden, die sehr mit sich selbst, ihren Projekten und Befindlichkeiten beschäftigt ist. Der Dichter Francis erscheint dabei als narzisstische Figur, die sich und ihre Kunst zum Zentrum der Welt erklärt – eine Figur, die ebenso kritisch wie glaubwürdig gezeichnet ist, zugleich aber den Eindruck verstärkt, dass sich der Roman sehr stark um sich selbst und seine eigene Künstlichkeit dreht.
Die politische und ökologische Dimension ist klar markiert: Die erzählte Zukunft ist das Resultat mehrfacher Katastrophen – Klimadesaster, Kriege, ein begrenzter Atomschlag –, und die Zivilisation erreicht nie wieder den Stand unserer Gegenwart. Dass Francis als naiver, ignoranten Klimawandelleugner inszeniert wird, ist dabei kaum subtil: Hier wird deutlich, wie sehr dem Text die drohende Klimakatastrophe als moralischer und politischer Bezugspunkt am Herzen liegt. Der Konflikt zwischen ihm und seiner Frau Vivien erhält dadurch eine zusätzliche Schärfe: Es prallen nicht nur Charaktere, sondern auch Haltungen zur Realität, Verantwortung und Zukunft aufeinander.
Erzählerisch ist der späte Perspektivwechsel hin zu Vivien einer der interessantesten Züge des Buches. Wenn ihre Aufzeichnungen auftauchen und der Leser die Ereignisse noch einmal aus ihrem Blickwinkel erlebt, entsteht ein produktiver Kontrapunkt zur vorher stark auf Francis fokussierten Darstellung. Plötzlich verschiebt sich der Fokus, die vermeintlichen Gewissheiten werden relativiert, und man ahnt, wie brüchig das ist, „was wir wissen können“. Umso bedauerlicher ist, dass diese neue Perspektive in der Rahmenhandlung nicht wirklich weiterverarbeitet wird und der Roman in einem relativ abrupten Schluss endet, der eher Ratlosigkeit erzeugt als einen starken, nachhallenden Schlusspunkt.
Im letzten Teil, in dem die Erzählung zunehmend in Richtung einer Kriminalgeschichte kippt, verstärkt sich der Eindruck einer gewissen Unwucht: Die Mischung aus dystopischer Zukunftsvision, Milieustudie der intellektuellen Oberschicht, Liebesgeschichte(n), poetologischem Spiel um den Sonettenkranz und Krimimomenten bleibt zwar originell, aber nicht wirklich aus einem Guss. Zurück bleibt ein Leseeindruck, der zwischen Bewunderung für die Konstruktion und Ermüdung durch die Detailversessenheit schwankt. Die kreative Anlage, die ungewöhnliche Perspektive und die thematische Ambition sind unbestreitbar; doch der Roman wirkt in seiner Gesamtdramaturgie unfertig und unrund.
Fazit: Was wir wissen können ist ein anspruchsvoller, ideenreicher Roman, der Leserinnen und Leser anspricht, die Lust auf komplexe Erzählarchitekturen, literarische Spiegelungen und ein stark intellektualisiertes Milieu haben – und die bereit sind, sich durch eine sehr hohe Dichte an Informationen zu arbeiten. Wer hingegen eine klar fokussierte, erzählerisch geschlossene Geschichte erwartet, wird sich von der Detailfülle, der Überpräsenz des Sonettenkranzes und dem abrupt wirkenden Schluss eher überfordert und ein wenig unbefriedigt zurückgelassen fühlen.
(Transparenzhinweis: Der Bewertungsteil der Rezension wurde auf der Grundlage eines diktierten Basistextes mit Hilfe einer KI ausformuliert).
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“Die elfte Stunde” von Salman RUSHDIE

Nachdem der große Erzähler sich nach dem – beinahe tödlichen – Attentat auf sich zunächst mit dieser traumatischen Erfahrung auseinandergesetzt hat, legt er jetzt einen Band mit 5 Erzählungen vor. Sie unterscheiden sich hinsichtlich Länge, Stil und Inhalt, weisen aber auch Gemeinsamkeiten aus, die sich im Titel des Buches widerspiegeln: In Elfte Stunde spannt RUSHDIE einen Bogen über fünf sehr unterschiedliche Geschichten, die alle um späte Lebensphasen, Bedrohung und das Ringen um ein letztes Maß an Freiheit kreisen. Es treten alte Männer, Künstlerfiguren und Schriftsteller als Protagonisten auf; es geht um Tod, Erinnerung, Rache und Sprache.
In „Im Süden“ sitzt dieser späte Moment in einem Mietshaus einer südindischen Großstadt: Zwei sehr alte Nachbarn, Junior und Senior, hängen in einer jahrzehntelangen Hassliebe aneinander fest, während im Hintergrund eine nationale Katastrophe heraufzieht. Die Geschichte ist eher bedächtig, beinahe klassisch-realistisch erzählt, mit leiser Ironie und einem genauen Blick auf Routinen, kleine Bosheiten und die komische Seite der Vergänglichkeit – ein eher zurückgenommener Rushdie, der seine Figuren empathisch über Dialoge und Alltagsdetails ausleuchtet.
„Die Musikerin von Kahani“ führt nach Mumbai in die Welt der Superreichen, der Gurus und der Kunst. Im Zentrum steht Chandni, ein musikalisches Wunderkind, dessen Talent von einem patriarchal geprägten Umfeld vereinnahmt und deformiert wird: von einem Milliardärsclan, der in ihr vor allem eine „Gebärmaschine“ sieht. Stilistisch schlägt Rushdie hier deutlich magisch-realistische Töne an – die Musik scheint in die Wirklichkeit einzugreifen –, gleichzeitig arbeitet er mit satirischen Überzeichnungen, grellen Bildern und scharfen Kontrasten zwischen Luxus, religiöser Pose und innerer Verwüstung.
„Saumselig“ verlegt die „elfte Stunde“ in ein traditionsreiches englisches College, das sofort Assoziationen an Oxford oder Cambridge weckt. S. M. Arthur, ein verstorbener Gelehrter, erwacht als Geist und spukt durch die altehrwürdigen Gemäuer; nur eine junge indische Studentin kann ihn sehen und hören. Hinter dieser Geistergeschichte steht jedoch ein sehr diesseitiges Thema: die lebenslange Verdrängung und gesellschaftliche Ächtung von Homosexualität. Arthurs Biografie erscheint als Protokoll einer existenziellen Beschädigung durch homophobe Normen und institutionelle Heuchelei. Stilistisch verbindet der Text klassische Campus-Atmosphäre mit Elementen der Spukgeschichte und einem feinen, melancholischen Humor, der durchaus auch überraschende Wendungen ermölgicht.
„Oklahoma“ verschiebt die Perspektive stärker in den literarische Kosmos. Ein Schriftsteller sucht in den USA nach Wahrheit und Legende rund um einen älteren Mentor, dessen vermeintlichen Selbstmord und mögliche zweite Existenz. Berichte, Manuskripte und Erinnerungen widersprechen einander, Anspielungen auf Kafka und die Literaturgeschichte öffnen immer neue Ebenen. Die Erzählung ist komplex und findet auf mehreren Dimensionen statt: teils Roadmovie, teils Detektivgeschichte, teils Reflexion über Autorschaft und Identität. Der Stil ist entsprechend: fragmentarisch, selbstreflexiv, immer wieder durchsetzt von literarischen Bezügen. Nicht ganz so glatt zu lesen…
„Der alte Mann auf der Piazza“ schließlich spielt in einem mediterranen Umfeld: Ein alter Mann sitzt Tag für Tag auf der Piazza, während um ihn herum Aktivisten, moralische Wächter und mediale Stimmen über Sprache, Schuld und Grenzen des Sagbaren streiten. Im Zentrum stehen Redefreiheit, Cancel-Kultur und die Frage, was vom öffentlichen Gespräch übrig bleibt, wenn Sprache permanent überwacht und sanktioniert wird. Stilistisch nähert sich Rushdie hier der Parabel an: verdichtet, symbolisch, mit erkennbarer Tendenz zur Zuspitzung.
So ergeben die fünf Texte zusammen ein Mosaik spätester Lebensmomente – alte Körper, späte Wahrheiten, bedrohte oder unterdrückte Existenzen.
Im Vergleich zu den großen, opulenten Romanen Rushdies wirkt Elfte Stunde fast überraschend zugänglich. Vor allem die ersten drei Geschichten sind – für seine Verhältnisse – geradezu schlicht erzählt: weitgehend frei von dem überbordenden Arsenal an Anspielungen auf Kulturen, historische Ereignisse, Kunstwerke und politische Konstellationen, das frühere Texte für manche Leser schwer verdaulich gemacht hat. Rushdie verzichtet hier weitgehend auf das barocke Ausstellen seines immensen kulturellen, historischen und theologischen Wissens. Die Geschichten lassen sich wie „normale“ Kurzgeschichten lesen: linearer, konzentrierter, weniger verspielt. Dadurch verlieren sie zwar einen Teil jener ausschweifenden, funkelnden Überfülle, die man mit seinem Werk verbindet, gewinnen aber deutlich an Zugänglichkeit.
Dieser stilistische Rückbau bedeutet allerdings keine Einbuße an literarischer Qualität. Im Gegenteil: Gerade in der reduzierteren Form tritt die Souveränität des Erzählers umso klarer hervor. In jeder Geschichte spürt man das sprachliche Können, die Variationsbreite seiner Tonlagen und die Lust am Spiel mit Erzählperspektiven und Strukturen. Elfte Stunde ist daher weniger ein „abgespeckter“ Rushdie als ein disziplinierterer – ein Autor, der seine Mittel kennt und sie bewusst dosiert, ohne seine Handschrift zu verleugnen.
Speziell in den beiden letzten Geschichten verlangt der Autor von seinem Publikum dann doch etwas ab – aber RUSHDIE-Fans werden das gerne in kauf nehmen.
(Transparenz-Hinweis: An der Ausformulierung dieser Rezension war eine KI beteiligt; natürlich sind meine Bewertungen davon nicht betroffen).
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“Origin” von Andreas BRANDHORST

Andreas BRANDHORST (*1956) ist einer der prägenden deutschsprachigen Science-Fiction-Autoren. Seine Romane verbinden oft große Zukunftsvisionen mit technik- und gesellschaftskritische Perspektiven.
Im ersten Band der „Origin“-Trilogie (Origin – Die Entdeckung) versetzt BRANDHORST die Leser ins 23. Jahrhundert: Die Erde ist durch Umweltzerstörung weitgehend unbewohnbar; Eliten auf dem verbliebenen Festland ringen mit den Bewohnern schwimmender Inseln um die letzten Ressourcen. Ein Kolonistenschiff soll der Menschheit einen Neuanfang in den Sternen ermöglichen. Dann wird es kompliziert: eine Sonde entdeckt im Kuipergürtel ein fremdes Artefakt, in dem ein humanoides Wesen seit Millionen Jahren im Kryoschlaf liegt.
Die – zur Identifikation einladennde – Paläontologin Lea Lehora untersucht mithilfe einer hochentwickelten Quantenintelligenz dieses Fundstück und stößt auf ein Rätsel, das eng mit dem Ursprung der Menschheit verknüpft ist – und mit darüber entscheidet, ob es überhaupt noch eine Zukunft für sie gibt.
Natürlich gibt es einen wissenschaftlichen Widersacher, der nur sein seinen persönlichen Ruhm und Einfluss im Kopf hat und die – eigentlich angeordnete – Zusammenarbeit torpediert. Das hat weitreichende Folgen.
Auf der Erde selbst sieht es alles andere als rosig aus. Diese Zukunftsprognose ist wohl eher “Science” statt “Fiction”. Die Ausgestaltung dieser Dystopie ist durchaus kreativ.
Die Geschichte ist ausreichend verzwickt konstruiert, so dass Abwechslung und Spannung geboten wird. Es gelingt dem Autor recht souverän, die Leserschaft mit in seine Zukunftswelt zu entführen.
Die mit einem wissenschaftsaffinen Background ausgestattete Theorie über die Entstehung irdischen bzw. menschlichen Lebens erscheint doch ein wenig hakelig – in deutlichem Kampf mit der Logik.
Natürlich ist der “Böse” wirklich sehr böse – aber das muss wohl so sein…
Letztlich liefert BRANDHORST mit diesem Werk eine solide Science-Fiction-Ware ab.
Neue oder besonders bemerkenswerte literarische oder technische Welten tun sich dabei nicht auf. Der Roman ist sicher kein “Muss”.
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“No Way HOME” von T.C. BOYLE

T. C. BOYLE gehört zu den Gegenwartsautoren, die es schaffen, gesellschaftlich brisante Themen in erzählerisch dichte, sprachlich kraftvolle Literatur zu verwandeln. Sein Stil ist unverkennbar: ironisch unterlegt, mit hohem Tempo, bildstarker Sprache und einem sicheren Gespür für das Abgründige im Alltäglichen. Immer wieder widmet er sich Figuren, die am Rand der Gesellschaft stehen oder an ihren eigenen Idealen scheitern – getrieben, widersprüchlich, oft zugleich lächerlich und berührend. Auch No Way Home reiht sich hier ein: ein psychologisch vielschichtiger Roman, der existenzielle Fragen aufwirft – mit einer erzählerischen Kraft, für die BOYLE seit Jahrzehnten geschätzt wird.
Erzählt wird von drei jungen Leuten, die durch eine herausfordernde Konstellation miteinander verbunden sind. Im Mittelpunkt steht eine schillernde Frau (Bethany), die sowohl das Leben des Assistenzarztes Terry durcheinanderbringt, als auch bei ihrem EX-Freund Jesse so tiefe Spuren hinterlassen hat, dass dieser sie einfach nicht aufgeben will.
Eigentlich lebt und arbeitet Terry in Los Angeles, muss sich aber nach dem plötzlichen Tod seiner Mutter um das geerbte Haus in Boulder City kümmern – einer vergleichsweise provinziellen Stadt am berühmten Hoover-Stausee im Umfeld von Las Vegas. Bethany und Jesse verbringen dort ein eher oberflächliches Mainstream-Leben zwischen Job und (möglichst vielen) Vergnügungen. Natürlich spielen dabei Alkohol, Drogen und Sex eine wesentliche Rolle.
Der Plot dreht sich um die beziehungsmäßigen Komplikationen zwischen den drei Protagonisten, die im Laufe von einigen Monaten eine unheilvolle Dynamik zu entwickeln scheinen…
Der Autor macht es einem mit der Auslegung seiner Figuren nicht ganz leicht: Während Terry (zumindest zunächst) einen halbwegs konsistenten Charakter aufweist, zeigen sich Jesse und Bethany eher zerrissen: Beide decken ein erstaunliches Spektrum an Empfindungen und Verhaltensweisen ab, das – insbesondere bei Jesse (der immerhin als Pädagoge arbeitet) – weit in ein „kriminelles“ Bereich hineinragt. Die beiden geraten immer wieder in Situationen, die sie „eigentlich“ so nicht wollten. Sie haben ihre Impulse nicht gut im Griff, werden von ihren momentanen Bedürfnissen getrieben – nicht von Prinzipien oder längerfristigen Zielen. Es ist auf Dauer ein wenig anstrengend, immer wieder dabei zuzuschauen, dass gute Vorsätze nur eine minimale Halbwertszeit haben.
Schließlich gerät auch Terry in einen Strudel, der seiner ursprünglich stabile bürgerlich-geradlinige Welt ins Wanken bringt.
Die Story kann als eine Art Milieustudie für das Leben in der modernen amerikanischen Freizeitgesellschaft betrachtet werden, wie es sich irgendwo zwischen urbanem und ländlichen Ambiente abspielt. Es gibt keine Werte oder Ziele neben Konsum und Vergnügen; man geht aus, trinkt, solange das Geld reicht und dreht sich letztlich nur um sich selbst. Moralische Maßstäbe sind entweder nicht vorhanden oder schnell vergessen – und die Grenzen zu kriminellen Handlungen ist fließend.
BOYLE gibt seinen Figuren viel Raum, lässt die Dinge eskalieren, urteilt nicht. Er lässt durchblicken, dass hinter all den Schwächen und Gleichgültigkeiten doch so etwas wie „echte“ Bedürfnisse verborgen sind: der Wunsch nach Anerkennung und Liebe, nach tieferer Bindung, vielleicht sogar nach Sinn.
So bietet BOYLE zumindest denjenigen ein lohnende Leseerlebnis, die sich weder durch die vermeintliche Oberflächlichkeit von Handlungen und Personen, noch von den manchmal nur schwer verdaulichen Verhaltensextremen abschrecken lassen.
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“Demokratie braucht Erziehung” von Herbert RENZ-POLSTER und Ulrich RENZ

Fangen wir mit dem Offensichtlichen an: Dieses Buch ist kein Erziehungsratgeber im klassischen Sinn. Wer konkrete Alltagstipps für das familiäre Zusammenleben erwartet, wird enttäuscht sein – und verfehlt zugleich den Anspruch, den die Autoren mit ihrem Text verfolgen. Herbert Renz-Polster und Ulrich Renz interessieren sich für die großen Zusammenhänge: für den Einfluss frühkindlicher Beziehungserfahrungen auf unsere späteren politischen Haltungen – und damit letztlich für die Frage, wie sich die Demokratie in einer Gesellschaft langfristig erhalten lässt.
Dabei bleibt das Buch nicht bei wohlklingenden Allgemeinplätzen stehen. Vielmehr gelingt es den Autoren, ihre Thesen nachvollziehbar und eindrucksvoll mit einer Vielzahl von wissenschaftlichen Befunden, psychologischen Studien und gesellschaftlichen Beobachtungen zu untermauern. Die Leserinnen und Leser werden nicht belehrt oder ideologisch vereinnahmt – im Gegenteil: Man fühlt sich eingeladen, einem stringenten und überzeugenden Argumentationsweg zu folgen, der von der individuellen Erfahrung bis zur gesellschaftlichen Verantwortung reicht. Ohne dass das Buch je polemisch oder übergriffig wird, macht es dabei eines sehr deutlich: Es geht hier um mehr als um Pädagogik. Es geht um die Zukunft unserer offenen Gesellschaft.
Eine der stärksten Thesen des Buches: Menschen, die in ihrer frühen Kindheit kein verlässliches Beziehungsnetz erleben konnten – die sich allein gelassen, bedroht oder machtlos gefühlt haben – sind später besonders empfänglich für autoritäre Denkweisen. Was oft als „politische Meinung“ erscheint, hat tiefere Wurzeln. Populistische und demokratiefeindliche Haltungen, so das Argument, sind nicht primär das Ergebnis rationaler Überzeugung – sie sind emotionale Reaktionen auf alte Verletzungen. Diese Perspektive verschiebt den Blick – weg von moralisierenden Urteilen über „die da rechts“ hin zu einer tiefergehenden Frage: Wie geht eine Gesellschaft mit den seelischen Biografien ihrer Mitglieder um?
Das zentrale Argument: Kinder, die in frühen Jahren Vertrauen, Resonanz und sichere Beziehungen erleben, entwickeln mit größerer Wahrscheinlichkeit ein demokratisches Selbstverständnis – sie sind weniger anfällig für autoritäre Verlockungen und populistische Vereinfachungen. Umgekehrt kann ein Mangel an emotionaler Sicherheit dazu führen, dass Menschen später nach einfachen Wahrheiten, klaren Hierarchien und harten Abgrenzungen verlangen. Demokratie, so die Autoren, ist nicht nur ein institutionelles Gerüst – sie ist auch ein emotionales Fundament, das in der Kindheit gelegt wird.
All das ist für viele vermutlich nicht völlig neu. Aber die Stärke des Buches liegt auch nicht im revolutionär Neuen, sondern in der Klarheit, Zugänglichkeit und Eindrücklichkeit, mit der dieses Thema aufgearbeitet wird. Wer sich bislang kaum mit den langfristigen Folgen frühkindlicher Erfahrungen beschäftigt hat, findet hier einen hervorragenden Einstieg. Und wer bereits mit diesen Themen vertraut ist, wird die Lektüre dennoch als bereichernd und bestätigend empfinden.
Sprachlich finden die Autoren eine leserfreundliche Mischung zwischen niederschwelliger Führung und wissenschaftlicher Seriosität – so, wie man sich das für ein allgemeinverständliches Sachbuch wünscht.
Am Ende steht ein sehr lesenswertes Buch, das nicht nur informiert, sondern motiviert und ermutigt. Es ist ein Plädoyer für eine Erziehungskultur, die mehr ist als Anpassung und Leistung – nämlich eine Schule der Demokratie, im besten Sinne des Wortes.
Einschränkend sei erwähnt, dass es inhaltlich eine doch sehr große Übereinstimmung mit dem Vorgänger-Buch von RENZ-POLSTER gibt: Wer dieses Buch (“Erziehung prägt Gesinnung“) kennt, kann sich das hier besprochene Buch sparen.
Im Vergleich hat es allerdings Verbesserungen in der Sprache und der Strukturierung gegeben.
Auch dieses Buch hat einen Bezug zu meinem Web-Projekt “WELTVERSTEHEN“:
Die größte Nähe besteht zu der Themenseite “Erziehung und Bildung“. Hier finden Sie die Einbettung in einen größeren Zusammenhang und weitere inhaltliche Hinweise bzw. Anregungen.
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“Der Weg zur Freiheit” von Joseph STIGLITZ

Joseph STIGLITZ, vielfach ausgezeichneter Ökonom und langjähriger Kritiker neoliberaler Marktgläubigkeit, legt mit “Der Weg zur Freiheit” (The Road to Freedom) sein wohl grundlegendstes und persönlichstes Werk vor. Es liest sich wie ein Resümee seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit Wirtschaftssystemen – eine Art ökonomisches Testament. Der Titel ist programmatisch, denn STIGLITZ geht es um nicht weniger als die Rückeroberung des Freiheitsbegriffs. Dieser wurde seiner Ansicht nach zu lange und zu erfolgreich von marktradikalen, neoliberalen Kräften monopolisiert – als „Freiheit von“ statt „Freiheit zu“.
Das zentrale Argument zieht sich konsequent durch alle Kapitel: Freiheit bedeutet nicht Abwesenheit von Staat, sondern die Ermöglichung von Selbstbestimmung durch staatlich garantierte Rahmenbedingungen. Bildung, Gesundheitsversorgung, existenzsichernde Löhne, bezahlbarer Wohnraum, ein wirksames Wettbewerbsrecht und eine aktive Steuerung von (nachhaltigen) Zukunftsinvestitionen – das sind für STIGLITZ keine netten Zugaben, sondern Grundpfeiler einer Gesellschaft, in der Freiheit mehr ist als ein Schlagwort.
Er legt dar, wie in den USA durch Deregulierung, Steuererleichterungen für Reiche und den Abbau öffentlicher Infrastruktur über Jahrzehnte ein System entstanden ist, in dem sich wirtschaftliche und politische Macht gegenseitig verstärken – zum Nachteil der Mehrheit. Besonders drastisch schildert er den Einfluss von Großkonzernen und Superreichen auf Gesetzgebung, Medien und Justiz. Das Ergebnis: Ein wachsender Teil der Bevölkerung verliert nicht nur materielle Sicherheit, sondern auch jede reale Einflussmöglichkeit auf die Gestaltung ihres Lebens.
Seine Forderungen sind dabei ebenso konkret wie weitreichend. So spricht er sich für eine Vermögenssteuer aus, um die zunehmende Konzentration von Reichtum zu begrenzen. Er plädiert für die Stärkung von Gewerkschaften, da diese historisch erwiesenermaßen ein entscheidendes Korrektiv gegenüber Kapitalmacht darstellen. Auch ein öffentliches Gesundheitssystem nach dem Vorbild europäischer Länder wird als Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit und ökonomische Produktivität dargestellt.
Immer wieder betont STIGLITZ, dass wirtschaftliche Freiheit für die Mehrheit nicht im Gegensatz zu staatlicher Regulierung steht – sondern ohne sie schlicht nicht existiert. Seine historische Perspektive ist dabei hilfreich: Er erinnert an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der viele westliche Demokratien gezielt auf Sozialstaatlichkeit, Arbeitnehmerrechte und öffentliche Investitionen setzten – mit enormem ökonomischen Erfolg. Erst mit dem neoliberalen Rollback der 1980er-Jahre (durch Reagan und Thatcher, später auch durch Clinton, Blair und Schröder) sei diese Balance verloren gegangen. Was folgte, beschreibt STIGLITZals „Freiheit für die Märkte, aber nicht für die Menschen“.
Für die europäische Leserschaft – insbesondere aus Ländern mit einer Tradition der sozialen Marktwirtschaft – wirken manche Argumente fast banal. Es braucht keine große Überzeugungskraft, um etwa die Notwendigkeit progressiver Besteuerung oder einer aktiven Wohnungspolitik nachzuvollziehen. Das erklärt auch die vielleicht größte Schwäche des Buches: STIGLITZ argumentiert mitunter stark redundant, wiederholt Kerngedanken bis zum Überdruss und verliert sich in Details, die man hierzulande bereits als gesetzt ansehen könnte. Man merkt: Er schreibt für ein amerikanisches Publikum, das diese Selbstverständlichkeiten vielfach erst wieder (oder überhaupt) entdecken muss.
Und dennoch: Auch in Deutschland oder Europa ist der Rückzug des Staates, die Privatisierung öffentlicher Güter und die Ausweitung prekärer Beschäftigung Realität. Insofern ist die Lektüre keineswegs überflüssig. Im Gegenteil: Sie erinnert daran, dass Freiheit stets neu ausgehandelt werden muss – und dass die Sprache, in der wir über Wirtschaft sprechen, nicht neutral ist.
Der Weg zur Freiheit entfaltet das Bild eines Wirtschaftssystems, das in vielerlei Hinsicht an das Ideal der sozialen Marktwirtschaft anknüpft – erweitert um ökologische Nachhaltigkeit und globale Verantwortung. Es ist ein klar sozialdemokratisch inspiriertes Modell, das sowohl pragmatisch als auch normativ überzeugt. Wer sich für den Zusammenhang von ökonomischer Ordnung und gesellschaftlicher Freiheit interessiert, findet in diesem Buch eine gleichermaßen fundierte wie engagierte Analyse.
Stiglitz’ Buch ist damit nicht nur ein ökonomisches Argumentationsfundament gegen den Neoliberalismus, sondern auch ein Appell an die politische Urteilskraft. Es fordert dazu auf, die wirtschaftliche Ordnung nicht als Sachzwang zu akzeptieren, sondern als gestaltbares Gemeinwohlprojekt zu begreifen. Dass diese Einsicht – gerade in Zeiten globaler Krisen und zunehmender sozialer Polarisierung – alles andere als selbstverständlich ist, macht den Wert dieser Lektüre aus.
Von einem bereits überzeugten Publikum fordert das Lesen allerdings zwischenzeitlich eine fast unzumutbare Toleranz gegenüber Wiederholungen.
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“Sprachmaschinen” von Roberto SIMANOWSKI

Wenn man sich als relativ Technik-affiner Buchblogger einem aktuellen philosophischen Statement zur KI zuwendet, erwartet man eher eine herausfordernde Leseerfahrung: Liegt es doch – vermeintlich – recht nahe, dass hier mit viel geisteswissenschaftlichem Pathos auf eine kulturpessimistische Art und Weise pauschal gegen die Irrungen und Bedrohungen eines unverantwortlichen Technik-Wahns angekämpft wird.
Kurz gesagt: Man befürchtet eine große Portion Bedenkenträgertum, mindestens jedoch ausgewachsenen Skeptizismus.
Was Roberto SIMANOWSKI hier (im Oktober 2025) vorlegt, spielt allerdings in einer völlig anderen Liga! Mir scheint die Prognose vertretbar, dass hier ein Grundlagenwerk geschaffen wurde, das die gesellschaftliche Diskussion im Bereich der (sprachbezogenen) KI für längere Zeit prägen wird.
Zunächst überrascht der Begriff “Sprachmaschinen” – der ja keineswegs geläufig ist. Der Autor benutzt ihn, um seine Konzentration auf diesen bedeutsamen Teilbereich der Künstlichen Intelligenz zu dauerhaft und unübersehbar zu markieren. Gleichzeitig trägt dieser Begriff auch eine implizite Botschaft: Er erinnert permanent an die zentrale Rolle der Sprache für die Entwicklung der Kultur des Menschen, seiner Erkenntnismöglichkeiten und seines Selbstverständnisses; gleichzeitig verbindet der zweite Wortteil daran, dass die KI in der Entwicklungslinie aller früheren Werkzeuge steht. Genau in der – bis vor kurzem undenkbaren – Verbindung zwischen dem Kern des (geistig-bewussten) Menschseins und der (digitalen) Technologie liegt das revolutionäre Potential, das SIMANOWSKI in seinem Buch in einer bewundernswerten Gründlichkeit durchdringt.
Wer sich mit diesem Buch argumentativ gegen die gesellschaftliche Dominanz und den kulturellen und ökonomischen Machtanspruch des KI-Tsunamis wappnen will, geht in diesem Buch ganz sicher nicht leer aus. Im Gegenteil: Der Text ist prall gefüllt mit differenzierten, sachkundigen und didaktisch gut aufbereiteten Argumentationslinien, die Sand in das gut geölte Getriebe des KI-Hypes schütten können. Es erscheint kaum eine kritische Perspektive denkbar, die vom Autor übersehen wurde.
Allerdings wird hier keine Fastfood-Polemik geboten, die anstrengungslos in das nächste Pausengespräch eingebracht werden könnte. Ein Grund dafür liegt darin, dass SIMANOWSKI kein Eiferer ist, der nur wortreich einen technikbedingten Untergang des Abendlandes zelebrieren wollte. Der Autor zeigt nicht nur seine fachspezifische (philosophische) Fundierung, sondern erweist sich als fachkundiger Kenner relevanter politischer, soziologischer und technikreflexiver Texte bzw. Positionen.
So wie sich der Autor seine differenzierten Betrachtungen ganz offensichtlich gründlich erarbeitet hat, so verlangt auch das Lesen seiner Ausführungen eine gewisse konzentrative Disziplin. Als Belohnung winkt eine Erkenntniserweiterung, die über das Füttern bestimmter vorgegebener Pauschalurteile weit hinausgeht.
Im Zentrum der Analyse stehen Fragen, die der Autor selbst in seinem Ausblick-Kapitel so zusammenfasst:
“Wer spricht eigentlich, wenn die Sprachmaschine spricht? Was bedeutet es für Minderheitenpositionen, wenn die statistische Mehrheit das Sagen hat? Wer treibt der Sprachmaschine das inkorrekte Sprechen aus, zu dem die Statistik sie verführt? Mit welchem politischen Mandat? Wie kann der Mensch der Überredungskunst der Sprachmaschine widerstehen? Warum gibt es überhaupt Sprachmaschinen?”
Was deutlich wird: SIMANOWSKI geht ins Eingemachte. Er schaut sich die konkreten Prozesse und deren Vorgaben und Einbettungen an, sowohl von der technischen Logik, als auch bzgl. der zugrundeliegenden Wertungen und Machtstrukturen.
Dabei ist der Autor zwar unbeirrt kritisch, aber nie polemisch oder gar auf einem Auge blind.
Er will einfach sehr genau wissen (zu Ende denken), was es bedeutet – oder bedeuten könnte – wenn demnächst die von uns gelesenen und gefertigten Texte ganz überwiegend KI-generiert sind. Welche Kompetenzen würden uns verloren gehen? Welchen (zusätzlichen) Manipulationen wären wir ausgesetzt? Wie könnten oder sollten KIs mit kulturspezifischen Werten oder unterschiedlichen politischen Überzeugungen umgehen? Wird alles auf eine statistische Normalität hin nivelliert oder haben wir alle unsere optimal zugeschnittene ganz persönliche KI, die uns immer nach dem Munde denkt und spricht?
Manchmal wechselt SIMANOWSKI von der technologisch-konkreten Ebene auf philosophische Grundsatzfragen – und man findet sich plötzlich bei HEGEL oder KANT wieder. An der nächsten Ecke wartet HARARI oder man schaut eine Szene von “2001: Odyssee im Weltraum”. Langweilig wird es nie, auch nicht platt oder missionarisch.
Im Ausblick wird der Autor geradezu überraschend versöhnlich-optimistisch: Er macht sehr pragmatische Vorschläge hinsichtlich einer “Philosophischen Medienkompetenz”, die – natürlich – das aktive Umgehen mit den Sprachmaschinen beinhalten soll und muss.
SIMANOWSKI will diese modernsten und weitreichendsten Werkzeuge des Menschen weder verdammen noch verbannen; ganz offensichtlich sieht er auch deren Nutzen und Potential für sich und andere.
Wer sich demnächst über Grenzen und Risiken der Sprach-KIs sachkundig und niveauvoll äußern will, wird – so meine Überzeugung- an diesem Aufschlag von SIMANOWSKI kaum vorbeikommen.
Meine Konsequenz: Eines meiner nächsten Bücher wird “Sprachmaschinen” heißen! Ich werde das Buch mit Genuss noch einmal lesen – mit noch mehr Aufmerksamkeit für die Feinheiten…
Auch dieses Buch hat einen Bezug zu meinem Web-Projekt “WELTVERSTEHEN“:
Die größte Nähe besteht zu der Themenseite “KI“. Hier finden Sie die Einbettung in einen größeren Zusammenhang und weitere inhaltliche Hinweise bzw. Anregungen.
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“Der gefrorene Fluss” von Ariel LAWHON

Die berührende Geschichte der Hebamme Martha Ballard beruht auf der Biografie einer historischen Person. Tatsächlich gibt es ein selbstgeführtes Tagebuch dieser außergewöhnlichen Frau, die am Ende des 18. Jahrhunderts im Nordosten der USA gelebt hat. Dieser Umstand verleiht diesem Buch der preisgekrönten amerikanischen Autorin Ariel LAWHON eine noch größere Authentizität, als es selbst ein gut recherchierter fiktiver historischer Roman vermocht hätte.
Es ist eine Hommage an einer wahrhaft starke Frau, eine Verneigung gegenüber dem Beruf der Hebamme und eine Würdigung einer außergewöhnlichen ehelichen Beziehung in einem extrem patriarchalischen Umfeld. Martha Ballard ist eine extrem kompetente Geburtshelferin, hat profunde Kenntnisse im Bereich der Naturmedizin und führt – gemeinsam mit ihrem Ehemann – einen Hof mit Holzwirtschaft und einer Mühle.
Dank der Initiative ihres bemerkenswert fortschrittlichen Gatten erwarb Martha als junge Ehefrau die Kulturtechniken; sie entwickelte sich zu einer mutigen und selbstbewussten Frau, die ihre Familie und ihren Beruf mit großer Hingabe, Gerechtigkeitssinn und Weltoffenheit managt.
Ihrem Status als Gesundheits-Fachkraft und als Vertrauensperson des weiblichen Geschlechts ist es zu verdanken, dass sie einerseits in die Erstuntersuchung einer im zugefrorenen Fluss gefundenen männlichen Leiche involviert wurde – und gleichzeitig in einen dramatischen Vergewaltigungsfall eingeweiht wurde.
Die facettenreiche Verbindung beider Verbrechen liefert den zentralen Handlungsstrang des Romans, an dem entlang wir das Leben von Martha und ihrer Familie ein knappes Jahr lang begleiten können.
LAWHONs (bzw. Marthas) Botschaften aus dieser extrem männerdominierten und gewaltvollen Zeit ist eindeutig: Sie macht auf die tief in die gesellschaftlichen Strukturen eingewobene Unterdrückung der Frauen aufmerksam, prangert den Machtmissbrauch einzelner Funktionsträger und die mangelhafte Rechtssicherheit an.
Ohne solche engagierten und aufgeklärten Einzelpersonen wie Martha wäre das Alltagsleben für die – insbesondere weibliche – Durchschnittsbevölkerung noch deutlich schwerer und leidvoller.
Dass in einem Roman über eine solche Welt die Zuschreibungen von “gut” und “böse” extrem eindeutig ausfallen, überrascht vermutlich nicht. Man muss nicht, könnte es aber in diesem Zusammenhang als ein wenig klischeehaft empfinden, wenn es ausgerechnet der arrogante, akademisch gebildete, junge Arzt ist, dem gegenüber Martha ihre haushohe Überlegenheit in der Geburtskunde nachdrücklich unter Beweis stellt.
Tatsächlich gewinnt Martha in dem Text fast übermenschliche Kompetenz und Güte; eine einzige moralisch fragwürdige Entscheidung wird – natürlich – korrigiert. Sich als Leser/in mit dieser Protagonistin emotional zu identifizieren, fällt entsprechend leicht.
Das Motiv der ganzheitlichen Naturverbundenheit dieser “weisen” Frau findet sich nicht nur in der liebevollen und empathischen Beziehung zu einer Reihe von (meist jungen) Patientinnen und ihren Neugeborenen. Als Zeichen für diese – sicher nicht zufällig eher weiblichen – Haltung dient auch der besondere Draht zu ihrem Pferd und der fast mystische Kontakt zu einer Füchsin, die in entscheidenden Momenten der Story eine Rolle spielt.
Das Zielpublikum für diesen Roman ist leicht zu beschreiben: Er durfte insbesondere mit dem Zuspruch von Leserinnen rechnen, die das Eintauchen in historische Konstellationen lieben und sich in einem solchen Setting auch gerne emotional ansprechen lassen. Eine Frau wie die Hebamme Martha Ballard bietet sich als geradezu perfekte Identifikationsfigur für weibliche Selbstermächtigung an. Dabei ist positiv zu vermerken, dass die Betonung der Naturnähe nicht auf eindeutig esoterische Abwege führt. Auch die Tatsache, dass es eine rundum positive Männerfigur gibt, verschafft dem Roman eine angenehme Differenziertheit.
Ohne Zweifel bietet der Roman von Ariel LAWHON – natürlich auch männlichen Lesern – einen anregenden und informativen Einblick in eine Epoche, in der es in der “neuen Welt” noch geradezu heldenhaften Einsatz und Mut bedeutete, sich als Frau in einer reinen Männergesellschaft Gehör zu verschaffen und für die Rechte von Frauen einzutreten.
Irritierend sollte dabei der Umstand sein, dass es heute immer noch beträchtliche Bereiche dieses Planeten gibt, in denen für Frauen Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnisse die alternativlose Realität darstellen.
Ach ja: Unterhaltsam und spannend erzählt ist die Geschichte von Martha auch!
In einem Nachwort erklärt die Autorin dankenswerter Weise den historischen Background und die fiktionale Abweichung vom Ursprungstext.
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“Inferno” von Dan BROWN

Ich habe jetzt drei Bände der Robert-Langdon-Serie in umgekehrter Reihenfolge gelesen, also vom aktuellen (“The Secret of Secrets“) über “Origin” (2018) zu dem hier besprochenen Inferno (von 2014). Wie alle – und es sind viele – Fans von Dan BROWN seit “Illuminati” wissen, weicht der Autor von seinem bewährten und erfolgreichen Strickmuster nicht mehr ab: Es gibt ein bis drei große Themen (so was wie Religion, alte Weisheiten oder menschliches Bewusstsein), eine verzwickte Reise zu Schauplätzen der Kunst- und Architekturgeschichte und die dringende Notwendigkeit einige verschlungene Rätsel zu lösen, um irgendein extrem wichtiges Problem zu lösen.
Zum Glück ist der Kulturhistoriker Robert Langdon stets zur Stelle, um mit Hilfe seines schier grenzenlosen Wissens und seines eidetischen Gedächtnisses die entscheidenden Hinweise zu entschlüsseln.
Das Ganze führt zu teils atemberaubenden Jagden, die – natürlich – in gnadenlosem Wettbewerb gegen übelwollenden Mitstreitern verlaufen.
Als Leser/in kann man sich diesen kunstvollen Spannungsbogen mit dem Gefühl ausliefern, jeweils gleich eine doppelte Portion Wissen zu tanken: über den Gegenstand der Story und über die Schauplätze. Man hat es also mit “Bildungs-Thrillern” zu tun.
Wie schön, dass die Bösewichter dieser Welt so ein skurriles Vergnügen daran haben, die Hintergründe ihrer Taten so super-intelligent zu verschlüsseln: als ob sie Herrn Langdon eine Freue machen wollten….
In “Inferno” geht es um die Gegenwartsprobleme “Überbevölkerung” und “Transhumanismus”. Kulturhistorisch geht es um Dante, diverse Darstellungen der Hölle und einige spektakuläre Locations in Florenz, Venedig und Istanbul:
Was will man mehr…
Ich interessiere mich speziell dafür, welche Positionen ein weltbekannter Autor für die von ihm gewählten Themen hat: Ob er sich wohl traut, sich vom gefälligen Mainstream zu entfernen, oder verfolgt er gar eine aufklärerische Mission?
Ich diesem Punkt war ich bei den oben erwähnten aktuelleren Werken ein wenig enttäuscht. Im Inferno zeigt BROWN vergleichsweise klare Kante: Er zeigt eine gewisse Offenheit und Sympathie sowohl für drastische Formen der Bevölkerungskontrolle, als auch für die Grundidee des Transhumanismus – also bzg. der Idee, dass der Mensch das Recht (oder gar die Pflicht) haben könnte, selbst mit biotechnischen oder digitalen Maßnahmen in die Evolution einzugreifen.
Durchaus bemerkenswert!
Ansonsten muss man schon einige Toleranz für die Kurven und Schleifen aufbringen, in denen BROWN uns – geleitet durch den Historiker-Held – durch die – insbesondere kirchlich geprägte – Kunstgeschichte der Renaissance hetzt. Es wirkt stellenweise doch ein wenig überladen, des Bildungsbürger-Trainings zu viel…
Die erwartbaren Spannungsbogen funktionieren zuverlässig; die ein oder andere überraschende Wendung ist eingebaut: So funktioniert das Markenzeichen “Dan BROWN”.
Ich habe die Lese-Zeitreise letztlich nicht bereut; jetzt ist aber auch genug. Mehr desselben ist nicht mehr nötig!
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“Der neue Wohlstand” von Ezra KLEIN und Derek THOMPSON

Dieses amerikanischer Buch könnte so etwas wie die Betriebsanleitung für eine Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der “vernünftigen Mitte” sein. Hier wird eine Perspektive vorgestellt, die von den realpolitischen GRÜNEN bis in die – noch von Populismus freien – Teile der UNION reichen könnte: pragmatisch, anschlussfähig, nachhaltig, zukunftsfähig, weitgehend unideologisch.
Das Ganze erinnert ein wenig an die positiven Visionen in der Startphase der Ampelkoalition: an den Versuch, Aufbruchstimmung und (digitale, mentale und ökologische) Transformation mit wirtschaftlicher Effizienz und Wohlstandsversprechen zu verbinden.
Das Autorenpaar nimmt in seiner Betrachtung nach und nach die Faktoren unter die Lupe, die – ihrer gut begründeten Einschätzung nach – für Fehlentwicklungen bzw. für die Verhinderung dringend notwendiger Veränderungsschritte verantwortlich sind:
– Selbst geschaffte Knappheiten (u.a. durch zu viel Regulierungen und Konzentration auf Verteilung, statt auf Erhöhung des Outputs)
– Trägheit von Systemen und Prozessen
– mangelnde Prioritätensetzung und Schwächen bei der Umsetzung von Projekten (bürokratischer Perfektionismus statt pragmatischer Kompromisse)
– ineffiziente Zuständigkeiten und fragmentierte Entscheidungsprozesse
– Selbstbeschränkung aus Angst vor Kritik und Widerständen
– ideologisch motivierte Ablehnung einer staatlich gelenkten zukunftsbezogenen Forschungs- und Innovationspolitik
– Leugnung und Bagatellisierung der objektiven Veränderungsnotwendigkeiten (insbesondere bzgl. Klimawandel)
Was schnell deutlich wird: Die Autoren halten nichts von einer Abkehr von der Wachstumslogik! Sie wollen intelligenten, effizienten Wohlstand für möglichst alle; aber unter stärkerer Berücksichtigung der ökologischen und sozialen Notwendigkeiten.
Auf Deutschland übertragen: Sie nehmen beiden politischen Lagern etwas weg!
Den ökologischen Aktivisten entreißen sie alle Gedanken an “Degrowth”, also an die Abkehr vom Wachstum (“unrealistisch, nicht durchsetzbar”); ebenso den Anspruch, auch die letzte Kröte noch vor Infrastrukturprojekten zu retten. Den neoliberalen Marktfetischisten schlagen KLEIN und THOMPSON alle Argumente aus der Hand, die gegen eine politische Steuerung in Richtung notwendiger Innovationen ins Feld geführt werden: Der Markt alleine kann und wird es nicht richten!
Klingt alles irgendwie ausgewogen und vernünftig. Man könnte es sich sogar als deutsche Realpolitik vorstellen (wenn zufällig die GRÜNEN statt der CSU in der Regierungskoalition gelandet wären). Es bleibt aber die grundsätzliche Frage offen, ob nicht auch ein solches GRÜNES Wachstum eine Mogelpackung mit begrenzter Laufzeit ist.
Die Autoren haben im Grundsatz ein zwar aufgeklärtes und modernes, aber letztlich doch technokratisch-optimistisches Weltbild. Echte planetarische Grenzen (z.B. bei Ressourcen) kommen nicht vor, prinzipielle Veränderungen im menschlichen Mindset sind nicht vorgesehen – weil sie nicht notwendig und/oder unrealistisch erscheinen. Weder ein wirklich alternatives Wohlstandskonzept, noch grundlegende Gerechtigkeits- bzw. Gemeinwohlperspektiven bekommen einen angemessenen Raum.
Der Entwurf von KLEIN und THOMPSON stellt ohne Zweifel einen Fortschritt gegenüber der momentan festgefahrenen Situation dar und würde u.a. den erschreckenden Rückschritt in der Klima- und Umweltpolitik überwinden helfen.
Der Text hat stellenweise recht enge Bezüge zur amerikanischen (politischen und ökonomischen) Situation, sind seine Schlussfolgerungen und Anregungen aber durchweg auch für europäische Verhältnisse relevant.
Auch wenn die Schlussfolgerungen aus ökologischer Sicht in wesentlichen Punkten nicht mutig und konsequent genug ausfallen, wäre es ein Gewinn, wenn alle Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft sich wenigstens schonmal auf diese Basis einigen könnten.
Eine kluge und anregende Diskussionsgrundlage bietet das Buch allemal.
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